U-Bahnhof Wittenbergplatz. Eine junge Frau, Ende zwanzig, sympathisch. Sie weint. Ich erwische mich dabei, sie zu mustern, Merkmale zu finden, um sie entweder als irre oder als normal einzuordnen. Wäre sie irre, würde mich das Ganze wahrscheinlich nicht tangieren. Ergebnis der Musterung: Die Frau scheint in Ordnung zu sein. Schlimm. Frag lieber nicht, was sie hat, das gehört sich nicht. Du willst ja nicht irre wirken. Noch schlimmer. Ihre Misslage übte eine starke Wirkung auf mich aus und meine Blicke bissen sich fest wie tollwütige Hunde, nur ohne den ganzen Schaum und das Geknurre. Mit jeder Träne, entfernten sich auch die Blicke, bis mich und den Rest der Hunde die Rolltreppe verschluckte und uns die Filmblende des Bahnhofes endgültig die Frau abschnitt.
War ihre Lage nicht verzweifelt genug, dass niemand eingegriffen hat? Sind wir Menschen abgestumpft wie Kameras mit einer analysierenden Software? Empathielose Analyse wohl bemerkt, Analyse mit strikten Schranken und Mustern. Ist vielleicht deshalb das Thema Massenüberwachung so gleichgültig für die meisten von uns?
Ich werde Menschen folgen. Ich werde auf Kamera festhalten, wohin sie gehen, wen sie bewusst oder unbewusst treffen. Am Ende entsteht hoffentlich ein spannendes Muster von Wegen und Begegnungen.
Unsere Augen sind nicht Kameras. Unser Hirn ist keine Software. Unsere physische und geistige Freiheit steht nicht zur Debatte.